Tagungsexposé und call for papers
Epistemologie des Exemplarischen
Geschichte, Funktion und Ästhetik des Beispiels in Rhetorik, Wissenschaft
und Medien
FernUniversität in Hagen
9.–11. Juni 2005
Organisation:
Dr. Jens Ruchatz (Institut für Theater- und Medienwissenschaft der
Universität Erlangen)
Prof. Dr. Martin Huber (Institut für Neuere deutsche und europäische
Literatur, FernUniversität Hagen)
Dr. Stefan Willer (Zentrum für Literaturforschung, Berlin)
Dr. Nicolas Pethes (Germanistisches Seminar der Universität Bonn)
Die Tagung widmet sich einem gewöhnlich marginalisierten und doch beharrlich
präsenten Mittel der Plausibilisierung, Initiierung und Suggestibilisierung
von Diskursen: dem Beispiel, das in rhetorischen Regelwerken,
wissenschaftlichen Argumentationszusammenhängen und populären Ikonisierungen
gleichermaßen zu Hause ist. Der im Lauf seiner wandelhaften Geschichte mehr
oder weniger konstante Bezug von Regel und Einzelfall, der für das
Exemplarische konstitutiv ist, soll daher als Form und Dynamik der
Wissensproduktion in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, bis hin zur
gegenwärtigen netzgestützten Wissensgesellschaft, kenntlich werden.
Aus wissensgeschichtlicher Perspektive scheinen Beispiele lediglich dazu zu
dienen, abstrakte Theoriekomplexe oder generelle Regeln zu illustrieren.
Ihrer Funktion, unmittelbare Evidenz für komplexe Zusammenhänge zu erzeugen,
steht daher oft der Vorwurf der Digression und Trivialität gegenüber. Die
Tagung möchte diese Funktion wie den kritischen Diskurs über sie historisch
rekonstruieren. Dabei wird sie aber das Augenmerk auch auf diejenigen
Prozesse richten, in denen Beispiele die ihnen vermeintlich übergeordnete
Regel unterlaufen, also ex-empla im wörtlichen Verständnis des
Heraus-Genommenen sind. Diese Eigendynamik und Emanzipation wird dort
kenntlich, wo ein Beispiel als Platzhalter für einen Sachverhalt einsteht,
der ohne diesen Platzhalter gar nicht vorstellbar ist. Dabei wird darauf zu
achten sein, inwiefern sich regelrechte ‚Poetiken des Exemplarischen‘
herausbilden, die eben nicht einen beliebigen Fall als Beispiel zulassen,
sondern spezifische Anforderungen an Beispielhaftigkeit stellen. Im Fokus
steht also das Paradox, daß Beispiele immer dann zum Einsatz kommen, wo
Wissen fehlt bzw. zu komplex ist, und in der Folge einzig für diese Lücke
bzw. Komplexität einstehen.
Diese Aspekte werden anhand einer heuristischen Aufteilung in
wissensabbildende, wissensbildende und normative Funktionen des Beispiels
von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart untersucht:
1. Belegbeispiel: In der Topik der rhetorischen Tradition, die im »age of
exemplarity« der Frühen Neu-zeit einen letzten Höhepunkt erlebt, ist das
Beispiel eine systematische Kategorie, die der Anwendung und Illustration
bekannter Regeln dient – an deren Konstitution sie allerdings auch
entscheidend beteiligt ist (siehe 2.). Als mit dem Abdanken der Topik im 18.
Jahrhundert die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem zu einer
epistemologisch fundamentalen Operation wird, gewinnt das Beispiel einen
neuen Stellenwert und lässt sich als Teil einer deduktiv argumentierenden
Methodik und Wissenschaftsrhetorik neu interpretieren. Beispiele garantieren
nun Evidenz und Anschaulichkeit auf der einen Seite, Merkbarkeit und
Popularisierung von Wissen auf der anderen. Wissenschaftstheoretisch kommt
es dabei zu dem Ungleichgewicht, daß Beispiele eine Theorie falsifizieren,
nicht aber verifizieren können.
2. Ausgangsbeispiel: Genau umgekehrt ist im Fall eines induktiven
Beispielgebrauchs der exemplarische Einzelfall der Ausgangspunkt, von dem
aus Regelhaftigkeit erschlossen werden soll. Hier sind Beispiele Teil einer
Materialsammlung, die – etwa im Fall medizinischer Fallgeschichten – die
empirische Grundlage für theoretische Generalisierungsversuche darstellt.
Die Präsentation als exemplarisch steht hier für die Gewißheit ein, daß sich
für die versammelten überhaupt eine Regel finden lassen werde: Die Logik des
Regelhaften wird dabei wissenschaftsrhetorisch weiter ausgedehnt, als sie
allein aufgrund der Belege reichen würde. In diesem Zusammenhang ist nach
der Autorität einer solchen Pars-pro-toto-Logik ebenso zu fragen wie nach
der Poetik der Auswahl und Gestaltung von wissensbildenden Beispielen.
3. Normatives Beispiel: Im Sinne eines solchen individuellen
Ausgangsbeispiels, aber unter Voraussetzung einer als verbindlich gedachten
allgemeinen Regel, zielt eine spezifische Semantik des Beispielhaften auf
die Vorbildfunktion ausgewählter Personen, Lebensläufe oder Werke in
Religion, Geschichte, Pädagogik, Kunst und Populärkultur. Seit der Denkfigur
der imitatio Christi werden Heilige, Helden, Lehrer, Genies und Stars gerade
in ihrer exzeptionellen Individualität zu Repräsentanten
allgemeinverbindlicher Lebensentwürfe ikonisiert – oder, im Fall des
abschreckenden Beispiels – als deren anomale Folie entworfen. Das normative
Beispiel verweist damit auf eine Regel, die erwünscht ist, mit Hilfe der
Didaktik des Beispiels aber überhaupt erst sozial verbindlich werden kann,
denn sie vermag es, abstrakte Normen anschaulich und attraktiv zu präsentieren.
Quer zu dieser heuristischen Typologie wird zu diskutieren sein, wie
Beispiele in verschiedenen Wis-sensdisziplinen (Grammatik, Philologie,
Humanwissenschaften, Medizin, politische Theorie, Recht, Theologie) und
Medien (Literatur, Bildmedien, Internet) verwendet, thematisiert und
bewertet werden und welche verschiedenen Erscheinungsformen und Markierungen
das Exemplarische kennt (Inventar, Liste, Zettelkasten, Suchmaschine, Fabel,
Fallgeschichte, Doppelpunkt, Parenthese). Der Kontrast zwischen
Marginalisierung und ikonischer Evidenz, vermeintlicher Austauschbarkeit und
gedächtnisstabilisierender Autorität von Beispielen soll dabei an Kontur
gewinnen.
Abstracts für Vorträge (ca. 500 Wörter) bitte bis zum 1. Dezember 2004 an
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oder an einen der Organisatoren:
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The German Studies Call for Papers List
Editor: Stefani Engelstein
Assistant Editor: Meghan McKinstry
Sponsored by the University of Missouri
Info available at: http://www.missouri.edu/~graswww/resources/gerlistserv.html
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